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„Nichts ist schlimmer, als sich auf dem Erreichten auszuruhen“
Im Interview: Petra Enders, Landrätin des Ilm-Kreises
Sie hat die Entwicklung des Industriegebiets am Erfurter Kreuz von Anfang an begleitet. Kaum jemand aus dem politischen Raum kann also präziser beschreiben, wie es auch abseits der positiven Schlagzeilen rund um das Gebiet aussieht, als die Landrätin des Ilm-Kreises, Petra Enders. Im Interview mit dem WIRTSCHAFTSSPIEGEL legt die parteilose Politikerin den Finger in die Wunden und benennt die Dinge, die für die weitere Entwicklung am Erfurter Kreuz dringend angefasst werden müssen. Gleichzeitig lobt sie aber auch die Zusammenarbeit der regionalen Akteure.

Foto: LRA Ilm-Kreis
Frau Enders, der Ilm-Kreis steht im Ranking der Industrieumsätze in Thüringen immer sehr weit oben. Das müsste Ihnen als Landrätin ein permanentes Lächeln ins Gesicht zaubern. Welche Bedeutung hat das Industriegebiet Erfurter Kreuz für die Wirtschaft des Ilm-Kreises?
Das Erfurter Kreuz spielt eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung des Ilm-Kreises. Aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage am Autobahnkreuz zwischen A 4 und A 71 ist es nicht nur für bereits in der Region ansässige Unternehmen attraktiv, sondern auch für neue Investoren. Zahl reiche weltweit agierende Unternehmen haben sich hier aufgrund der Attraktivität des Standortes angesiedelt, viele Arbeitsplätze wurden geschaffen. Und es wird weiterwachsen, dafür sprechen aktuelle Prognosen.
Mit dem stetigen Wachstum sind aber auch Herausforderungen verbunden, die wir gemeinsam meistern müssen. Die Standortvorteile, die das Erfurter Kreuz so attraktiv machen, sind nicht nur zu erhalten, sondern weiter auszubauen. Auch die unsicheren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, verbunden mit hohen Kosten für Energie und eine stetig weiter zunehmende Bürokratisierung, erschweren die Situation für die regionalen Unternehmen.
Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Thüringens Industriegebiet ist in den letzten Jahren rasant gewachsen. Das hat zweifellos auch Auswirkungen auf das räumliche Umfeld. Hält die Infrastruktur – wir reden erstmal nur über Verkehr, Ver- und Entsorgung – den heutigen Anforderungen noch Stand?
Bereits jetzt ist klar: Die Regionalentwicklung hinkt der wirtschaftlichen Entwicklung weit hinterher. Zwischen Erfurt und der Industriegroßfläche Erfurter Kreuz existieren starke Pendlerströme, die vermutlich weiter zunehmen werden. Darauf allerdings ist die Infrastruktur nicht ausgerichtet, die bereits jetzt aus allen Nähten platzt. Ich sage: Die Entwicklung der Infrastruktur muss dringend mit der wirtschaftlichen Entwicklung konform gehen, wollen wir die Lebensqualität erhalten, ausbauen und den Standort Erfurter Kreuz sowohl für Einheimische als auch für Zuziehende attraktiv gestalten.
Das fängt bei Straßen und Radwegen an, die den Pendlerströmen angepasst werden müssen, und hört bei der sozialen Infrastruktur nicht auf. Fakt ist: Die Schieneninfrastruktur muss dringend ausgebaut werden. An ihre Grenzen stößt auch die Schule in Ichtershausen. Es ist wichtig, den Ausbau der Schule voranzutreiben.
Am Erfurter Kreuz arbeiten tausende Menschen. Die wollen nicht ständig zig Kilometer weit zur Arbeit pendeln. Es wird also Wohnraum benötigt, ebenso wie Möglichkeiten der Kinderbetreuung und medizinischen Versorgung – um nur einiges zu nennen. Das Problem trifft sicher nicht nur den Ilm-Kreis allein, sondern auch Ihre räumlichen Nachbarn Landkreis Gotha und Erfurt. Wie schätzen Sie die Situation ein: Kann die Region das leisten? Was müsste geschehen, um die Situation zu verbessern? Was kann und will der Ilm-Kreis selbst leisten und wo sind das Land oder sogar der Bund gefordert?
Es besteht ein sehr hoher Bedarf an Wohnraum in allen Segmenten in der Region. Ausgehend vom weiteren Wachstum des Erfurter Kreuzes ist bis 2035 mit einem weiteren Bedarf an 5.000 Arbeitsplätzen zu rechnen. Soll sich die Wirtschaft weiter positiv entwickeln und wettbewerbsfähig aufgestellt sein, ist weitere Zuwanderung notwendig. Doch bereits jetzt ist sozial verträglicher Wohnraum knapp.
Darüber hinaus wird zusätzlicher Wohnraum für Zuziehende sowie für die Befriedigung der Wohnwünsche der Bürgerinnen und Bürger vor Ort benötigt. Bis zum Jahr 2035 wurde im Rahmen der Siedlungskonzeption ein Bedarf von 6.570 Wohnungen ermittelt. Spätestens ab 2028 bis 2033 ist die Nachfrage nach Wohnungen im Geschosswohnungsbau viel größer als das Angebot: Angenommen wird ein Defizit von 2.470 Wohnungen. Gleiches gilt für die Nachfrage nach Eigenheimen. Hier steht einem prognostizierten Bedarf von 3.200 Eigenheimstandorten lediglich ein Wohnbaupotenzial von 1.530 Wohnungen im Eigenheimbereich gegenüber. Das wurde im Rahmen der Siedlungsflächenkonzeption sehr deutlich herausgearbeitet.
Im Fokus der Untersuchung standen die Entwicklung des Arbeits- und Wohnungsmarktes und der Wohnbauflächen im Zeitraum bis 2035. Betrachtet wurden neben den Städten Erfurt, Gotha, Arnstadt und Stadtilm auch die Gemeinden Schwabhausen, Drei Gleichen, Nesse-Apfelstädt, Amt Wachsenburg sowie die Verwaltungsgemeinschaften Nesseaue und Riechheimer Berg. Um die Bedarfe zu diskutieren und den bereits bestehenden Mangel an Wohnraum in allen Segmenten anzugehen, würde ich sehr gern eine Wohnbaukonferenz mit den betroffenen Städten und Gemeinden, aber auch mit Wohnbaugesellschaften der Region ins Leben rufen.
Gefordert ist hier aber auch das Land Thüringen. Seit Jahren kämpfen wir um Fördermittel beim Land, das unsere Bedarfe jedoch nicht anerkennt. Dabei ist das Erfurter Kreuz als größtes Industriegebiet Thüringens genau wie Jena ein wichtiger Industrieschwerpunkt in Thüringen, es bietet großes Potenzial, um die Wirtschaftskraft des Landes zu stärken. Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, dass seitens des Landes Thüringen ein Infrastrukturfonds geschaffen wird, um die Region rund ums Erfurter Kreuz zu fördern, zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklung Hand in Hand gehen.
Auf der anderen Seite stehen die ansässigen Unternehmen. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit denen?
Eine gute Zusammenarbeit mit der regionalen Wirtschaft ist der Motor der regionalen und sozialen Entwicklung. Sie ist essenziell, um Investitionen tätigen zu können, nachhaltig zu wachsen, die soziale Stabilität zu fördern und die Lebensqualität der Menschen der Region zu verbessern. Ich erlebe hier ein enges Zusammenspiel mit den Unternehmen vor Ort, vor allem aber mit der Initiative Erfurter Kreuz.
Viele Projekte haben wir gemeinsam angestoßen und zum Erfolg geführt, angefangen von der inzwischen sehr gut etablierten Aktion „Ein Tag im Unternehmen“ über das noch neue Vorhaben „Praxistage im Ilm-Kreis“, das Schülerinnen und Schülern kontinuierlich Einblicke in die Arbeitswelt vermitteln soll, bis hin zu unserem thüringenweit einmaligen Pilotprojekt, das wir kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt haben: Im ersten Quartal 2025 wollen wir gemeinsam mit der Initiative Erfurter Kreuz die goFLUX-Mitfahr-App am Erfurter Kreuz etablieren, die mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) verknüpft werden soll.
Das Projekt verfolgt das Ziel, Mobilitäts angebote effizient zu bündeln und Pendelnden eine umweltfreundliche, kostensparende Alternative zu bieten. So ermöglicht es die goFLUX-Mitfahr-App Pendelnden, unkompliziert Fahrgemeinschaften zu bilden und den Weg zur Arbeit mit anderen Beschäftigten zu teilen. Besonders für Menschen im Schichtdienst bietet das Modell eine flexible Lösung. Über die App können Fahrgemeinschaften direkt per Smartphone organisiert werden.
Um den Einstieg zu erleichtern, gibt es seitens der Initiative Erfurter Kreuz finanzielle Anreize für die Anbieter von Fahrgemeinschaften. Der Landkreis unterstützt das Vorhaben aus Klimaschutzmitteln des Landes Thüringen und übernimmt die Kosten für das Aufsetzen der App goFLUX, den technischen Support, Marketing und das regionale Management vor Ort.
Gestatten Sie mir eine letzte Frage Frau Enders. Wir reden seit längerem über eine drohende Spaltung der Gesellschaft. Wir haben in unserem Gespräch Licht und Schatten rund um das Erfurter Kreuz beleuchtet. Aus Ihrer Sicht: Hat das Industriegebiet eher Potenzial, die Region zu spalten oder zu versöhnen?
Das Industriegebiet Erfurter Kreuz ist nicht nur das größte Industriegebiet Thüringens, es soll es auch bleiben. Nichts ist schlimmer als Stillstand, nichts schlimmer als sich auf dem Erreichten auszuruhen. In diesem Sinne arbeiten Ilm-Kreis, Landkreis Gotha und Stadt Erfurt zusammen und ziehen an einem Strang. Kernthemen sind dabei Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Daseinsfürsorge. Ich denke also, das Industriegebiet hat nicht nur großes Potenzial, um gemeinsam daran zu wachsen.
Unser gemeinsames Vorgehen über Landkreis- und Stadtgrenzen hinweg hat auch Vorbildwirkung für das Land und zeigt, wie man eine Region über alle Widrigkeiten hinweg gemeinsam voranbringen kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, die Menschen vor Ort im Fokus zu haben und Maßnahmen zu entwickeln, um die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu verbessern.