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„Die Aufbruchstimmung im Verband ist deutlich spürbar“
Vor dem Branchentag des Automotive Thüringen e.V.
Wenn es um die Transformation in der Wirtschaft geht, steht eine Branche besonders im Fokus: die Automobilwirtschaft. Das lässt sich auch in Thüringen beobachten. Immer wieder finden Standortschließungen oder Insolvenzen den Weg in die Schlagzeilen. Das Thema wird auch den diesjährigen Branchentag des Verbandes Automotive Thüringen e. V. prägen. Im Vorfeld hat sich Verbandsgeschäftsführer Rico Chmelik den Interviewfragen von WIRTSCHAFTSSPIEGEL-Chefredakteur Torsten Laudien gestellt. Dabei spricht er nicht nur über die Lage der Branche in Thüringen, sondern auch über die Stimmung im Verband. Außerdem äußert er sich über die Bemühungen der Politik und die Frage, ob Doppelstrukturen bei der Unterstützung der Branche sinnvoll sind.

Verbandsgeschäftsführer Rico Chmelik | Foto: © AT e. V.
Herr Chmelik, die Automotive-Branche ist quasi die Vorreiterin für die Transformation der deutschen Industrie. Die Stichworte dazu sind Dekarbonisierung und Digitalisierung. Wie sehen Sie die Branche in dieser Hinsicht aufgestellt?
Die Automobilbranche hat tatsächlich eine Vorreiterrolle in der doppelten Transformation – also sowohl bei der Dekarbonisierung als auch bei der Digitalisierung. Insgesamt sehen wir die Automotive Branche auf einem guten Weg, wenngleich die Herausforderungen enorm sind. Viele Unternehmen haben die Weichen bereits in Richtung Elektromobilität und klimaneutrale Produktion gestellt und investieren zugleich in moderne, digitale Prozesse. Gleichzeitig dürfen wir uns nichts vormachen: Der Wandel ist in vollem Gange und bringt auch Reibungen mit sich.
Ein Beispiel: Nach Jahren starken Wachstums stagnierte 2024 der Absatz von Elektroautos in Europa erstmals; in Deutschland gingen die Neuzulassungen batterieelektrischer Fahrzeuge sogar um rund 27 Prozent zurück, der BEV-Anteil an den Neuzulassungen fiel auf nur noch 13,5 Prozent. Trotzdem hat die deutsche Automobilindustrie die Elektro-Offensive fortgesetzt – die Produktion von E-Fahrzeugen blieb stabil, weil etwa 85 Prozent der hier gebauten E-Autos exportiert werden. Das zeigt: Unsere Unternehmen halten an der Transformation fest, auch wenn der Heimatmarkt schwächelt.
Parallel dazu treibt die Branche die Digitalisierung konsequent voran. Unsere Unternehmen wissen: Ohne digitale Transformation gibt es keine Zukunftsfähigkeit. Deshalb investieren viele Zulieferer kräftig in die Qualifizierung ihrer Belegschaft und in moderne Technologien, um effizienter und flexibler zu werden. Dabei ist Automotive Thüringen nicht nur Umsetzer, sondern auch Wissensakteur mit analytischer Tiefe. Seit 2019 haben wir über 45 Fachpublikationen zum automobilen Strukturwandel veröffentlicht und uns einen hervorragenden Ruf als Kompetenzzentrum für Transformationsfragen erarbeitet. Unsere wissenschaftlichen Partner reichen von der Friedrich-Schiller-Universität Jena über die RWTH Aachen, Universität Stuttgart, Hochschule Hof, Universität Kassel bis zum Chemnitz Automotive Institute. Wir verstehen den Wandel nicht nur als technologische Aufgabe – sondern als soziales, wirtschaftliches und kulturelles Gesamtphänomen. Seit 2024 engagieren wir uns zudem in der Automotive Regions Alliance (ARA) im Ausschuss der Regionen der EU, mit sehr guter Unterstützung der Thüringer Landesvertretung bei der EU, um die Interessen unserer Mitgliedsunternehmen und der Region Thüringen direkt in Brüssel zu vertreten.
In der öffentlichen Debatte geht es nach wie vor um die Frage des Verbrennerverbots. Die einen sind strikt dagegen, die anderen sehen eher die Chance für neue Geschäftsfelder. Und dann gibt es noch diejenigen, die für Technologieoffenheit plädieren. Geben Sie uns bitte einen Einblick in die Gefühlslage innerhalb Ihres Branchenverbands.
In unserem Verband erleben wir ein breites Meinungsspektrum zu diesem Thema – und das ist verständlich, denn unsere Mitgliedsunternehmen stehen sehr unterschiedlich in der Transformation.
Es gibt zum einen Unternehmen, für die ein mögliches Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 eine echte Existenzbedrohung darstellt. Diese Betriebe hängen heute noch stark vom klassischen Antriebsstrang ab, und entsprechend groß sind die Sorgen um Auftragsverluste und Arbeitsplätze. Viele dieser Mitglieder sind skeptisch und betrachten die aktuellen politischen Vorhaben mit Unruhe. Kein Wunder – die andauernde Unsicherheit in Bezug auf die Zukunftstechnologie Elektromobilität belastet die Stimmung. Man weiß eben noch nicht genau, wie schnell der Wandel kommt und welche Technologie sich letztlich durchsetzt. Aber wir wissen auch: Transformation ist Vertrauen. Transformation ist Identität. Es geht eben nicht nur um Technologie oder neue Produkte – sondern um das Selbstverständnis ganzer Regionen, Unternehmen und Belegschaften. Genau deshalb setzen wir so stark auf Dialogformate und intensive Einbindung aller Beteiligten.
Auf der anderen Seite haben wir etliche Unternehmen, die den Wandel offensiv als Chance begreifen. Sie entwickeln bereits heute erfolgreich Komponenten für Elektrofahrzeuge, Ladeinfrastruktur oder neue Mobilitätslösungen. Für diese innovativen Betriebe ist jeder Schritt in Richtung Elektromobilität zugleich eine Tür zu neuen Geschäftsfeldern. Sie sagen ganz klar: Wenn nicht jetzt investieren und umstellen – wann dann? Diese Aufbruchsstimmung ist im Verband deutlich spürbar – gerade jüngere oder diversifizierte Unternehmen sind oft erstaunlich optimistisch.
Der Großteil unserer Mitglieder plädiert allerdings weder für Schwarzmalerei noch für blinden Aktionismus, sondern für Maß und Mitte. Das heißt: Wir unterstützen das Ziel der Dekarbonisierung und die zunehmende Elektromobilität ausdrücklich. Aber wir halten es für wichtig, alle sinnvollen technischen Lösungen im Blick zu behalten. Synthetische Kraftstoffe oder Wasserstoff können zum Beispiel in bestimmten Nischen – etwa im Schwerlastverkehr oder bei Bestandsfahrzeugen – einen Beitrag leisten.
Die Landesregierung hat jetzt – einmal mehr, wie ich beobachte – einen Branchendialog auf den Weg gebracht, an dem auch Ihr Verband teilgenommen hat. Wie bewerten Sie diesen Impuls?
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Landesregierung den direkten Austausch mit der Branche sucht. Dieser Branchendialog bietet die Chance, gemeinsam über Lösungen zu sprechen, und wir engagieren uns als Verband sehr gern darin und bringen unsere Perspektiven mit ein. Wichtig ist jetzt, dass den Worten auch Taten folgen – unsere Unternehmen stehen massiv unter Druck. In Thüringen haben im vergangenen Jahr rund 70 Prozent der Automobilzulieferer Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Ein runder Tisch allein wird diese Probleme nicht lösen; es müssen konkrete Ergebnisse und Maßnahmen daraus entstehen.
Wir haben daher die Gelegenheit genutzt, der Politik sehr deutlich zu vermitteln, was aus Sicht der Thüringer Automobilzulieferer jetzt Priorität haben muss. In unserem aktuellen Impulspapier für die Zukunft haben wir eine Reihe von Forderungen formuliert, die wir im Branchendialog vorgestellt haben. Dazu gehören etwa ein entschlossener Bürokratieabbau und mehr unternehmerische Freiräume, damit sich Firmen auf Innovationen statt auf Formularwesen konzentrieren können. Wir fordern auch spürbare Entlastungen bei den Energie- und Standortkosten – zum Beispiel durch niedrigere Strompreise und schnellere Genehmigungsverfahren für eigene Energieanlagen. Ebenso wichtig sind bessere Förderbedingungen, etwa unkompliziertere Kreditprogramme oder die Aufhebung des Tarifzwangs beim Zugang zu Fördermitteln und weniger Auflagen bei Investitionszuschüssen, damit unsere Mittelständler in neue Technologien investieren können. All diese Punkte haben wir im Dialog klar benannt.
Eine weitere Beobachtung meinerseits: Die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) betreibt seit ein paar Jahren das Projekt ANeTT (Automotive Netzwerk Transformation Thüringen, Anm. d. Red.). Wenn man sich das aus der Nähe ansieht, scheint das im Grunde eine Parallelstruktur zu Ihrem Verband zu sein. Täuscht dieser Eindruck? Was kann ANeTT, was der AT nicht kann?
Ich kann diesen Eindruck gut nachvollziehen – und ich teile ihn. Das Projekt ANeTT wurde vor einigen Jahren ins Leben gerufen, um die Transformation der Automobilbranche in Thüringen zu begleiten. Vom Ansatz her klingt das gut, aber genau das ist ja bereits unsere Kernaufgabe als Branchenverband. Tatsächlich decken sich die Aktivitäten von ANeTT weitgehend mit dem, was wir als Automotive Thüringen seit nunmehr 25 Jahren erfolgreich leisten: Unternehmensvernetzung, Beratung zur Transformation, Vermittlung von Förderprojekten, Weiterbildung und so weiter. Einen echten Mehrwert oder spezielle neue Fähigkeiten, die nur ANeTT hätte und wir nicht, kann ich bislang nicht erkennen. Unsere Mitgliedsunternehmen sehen das ähnlich. Viele fragen sich, warum öffentliche Mittel in eine Parallelstruktur fließen, anstatt den bestehenden Verband zu stärken.
Dann nochmal konkret nachgefragt: Welchen Sinn ergibt es aus Ihrer Sicht, neben einem Branchenverband, der die Unternehmen der Branche repräsentiert, eine weitere Struktur mit Landesmitteln auszustatten, die im Grunde das Gleiche tut?
Aus unserer Sicht ergibt das keinen Sinn. Eine parallele Struktur mit Bundes- und Landesmitteln aufzubauen, die die gleichen Aufgaben verfolgt wie der bestehende Branchenverband, führt vor allem zu Doppelarbeit und Ineffizienzen. Wir haben hier de facto zwei Akteure, wo einer vollständig ausreichen würde – das ist weder im Interesse der Unternehmen noch des Steuerzahlers. Im Netzwerk gibt es keinerlei Akzeptanz für solche Doppelstrukturen und Doppelfinanzierungen. Die Firmen wollen klare Verhältnisse und eine effektive Unterstützung, statt Verwirrung durch parallel laufende Angebote. Jeder Euro, der in eine Parallelorganisation fließt, fehlt an anderer Stelle, wo er für die Transformation dringender gebraucht würde. Insofern können wir nur appellieren, die Kräfte zu bündeln, statt sie aufzuteilen.
Was ist Ihr Vorschlag dazu?
Unser Vorschlag ist relativ naheliegend: Wir sollten die Kräfte bündeln. Konkret plädieren wir dafür, die Aktivitäten von ANeTT vollständig in unseren Branchenverband zu überführen. Statt zwei getrennter Strukturen bräuchte Thüringen ein abgestimmtes Vorgehen unter einem Dach. Der Automotive Thüringen e. V. existiert seit 25 Jahren und vereint die Expertise der Unternehmen – warum also das Rad neu erfinden? Wenn die Landesregierung die vorhandenen Ressourcen direkt unserem Netzwerk zur Verfügung stellen würde, könnten wir damit noch gezielter und effizienter arbeiten. Wir haben das Vertrauen der Branche und etablierte Kommunikationskanäle zu den Unternehmen. Eine Integration von ANeTT in den Verband würde Doppelungen vermeiden und allen Beteiligten Klarheit verschaffen. Darüber hinaus sehen wir großes Potenzial in einer strukturell verankerten und institutionalisierten Dialogplattform, die Automotive Thüringen gemeinsam mit den Landkreisen, kreisfreien Städten und Kommunen aufbauen möchte. Denn Transformation muss regional verankert sein, dort, wo die Menschen leben und arbeiten. Wenn man wirklich Veränderung will, braucht es Orte des regelmäßigen Austauschs – auf lokaler Ebene, entlang konkreter Bedarfe. Diesen Dialog bringen wir als Verband bereits in vielen Projekten auf den Weg – aber strukturelle Unterstützung durch das Land würde uns dabei helfen, ihn langfristig zu verstetigen.
Letztlich geht es uns nicht um Eitelkeiten, sondern um Effektivität. Wichtig ist, dass die Transformationshilfe dort ankommt, wo sie benötigt wird: bei den Unternehmen. Dafür braucht es keine zwei parallelen Ansprechpartner. Unser Wunsch ist, dass wir hier gemeinsam mit der Landesregierung eine Lösung finden, die aus eins plus eins wieder eins macht – zum Wohl der Automobilzulieferer im Freistaat.
Eine letzte Frage noch, Herr Chmelik: Sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung haben Versprechen gegeben, für die Wirtschaft – und natürlich auch für die Automobilwirtschaft – bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Was erhofft sich Ihr Verband vom versprochenen Politikwechsel?
Wir hoffen, dass die politischen Versprechungen nun zügig in konkrete Verbesserungen für unsere Unternehmen münden. Ich habe die Punkte ja eben schon benannt.
Wenn die neue Politik diese Punkte angeht, würde das die Wettbewerbsfähigkeit unserer Zulieferer enorm stärken. Wir wünschen uns vor allem Verlässlichkeit, Stabilität und Mut von der Politik: Verlässlichkeit, damit Unternehmen langfristig planen können, und den Mut, auch unkonventionelle Schritte zu gehen, um den Industriestandort zu sichern. Gelingt das, bin ich optimistisch, dass unsere Thüringer Automobilwirtschaft gestärkt aus der Transformation hervorgehen kann – mit neuen Produkten, neuen Jobs und einer neuen Perspektive.
Interview: Torsten Laudien