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Fachkräftepotenzial in Thüringen ist weitgehend ausgeschöpft
Neue Studie
Die Möglichkeiten ausreichend Fachkräfte für den Thüringer Arbeitsmarkt zu gewinnen, sind weitgehend ausgeschöpft. Bis zum Jahr 2035 werden dort altersbedingt etwa 385.000 Personen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Das haben Dresdener Forschende vom dortigen ifo Institut in einer aktuellen Studie berechnet.
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Der zunehmende Fachkräftemangel trifft ganz Deutschland. Aufgrund regionaler Besonderheiten können nicht alle Bundesländer mit den gleichen Lösungsstrategien die Herausforderung angehen, die Wirtschaftsleistung zu erhalten. Politik und Wirtschaft diskutieren schon längere Zeit darüber, mit welchen Strategien sich Arbeitsplätze in Zukunft besetzen lassen. Im Zentrum steht die Frage, ob unbesetzte Stellen durch Zuwanderung aus dem In- und Ausland zu besetzen sind, oder ob regionale Potenziale ausgeschöpft und so das heimische Arbeitsangebot erhöht werden können. Anhand des Beispiels Thüringen ist jetzt untersucht worden, ob das regionale Potenzial überhaupt ausreicht, den prognostizierten Bedarf der Wirtschaft im Freistaat zu decken. Der vorliegende Aufsatz basiert auf einer Studie für das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie. Dafür hat das ifo Institut in Dresden im Rahmen einer aktuellen Fachkräftestudie Fachkräftepotenziale beziffert.
Blick hinter die reinen Zahlen
Eine Bemerkung sei vorausgeschickt: Mag die Studie auf den ersten Blick als Milchmädchenrechnung daherkommen, so leistet sie bei näherer Betrachtung mehr, als lediglich Zahlen miteinander in Beziehung zu setzen. So berührt sie die Frage, ob die potenziellen Arbeitskräfte über die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten für den jeweiligen Arbeitsplatz verfügen. Und sie verweist darauf, dass scheinbares Arbeitskräftepotenzial aufgrund individueller Entscheidungen der Menschen eben nicht gehoben werden kann. Damit kann man im Grunde das Fazit schon vorwegnehmen. „Das regionale Potenzial an Fachkräften ist nicht so groß, wie es oft dargestellt wird, und wird voraussichtlich nicht ausreichen, um den zukünftigen Fachkräftebedarf zu decken“, sagt der Dresdner ifo-Forscher Ernst Glöckner.
Wo liegen die Potenziale?
Aber nun zu den reinen Zahlen: Nur rund 247.000 Arbeitsplätze können durch Neueintritt von jüngeren Altersgruppen in das Arbeitsleben besetzt werden. Schätzungsweise 15.200 Langzeitarbeitslose können ins Berufsleben zurückgeführt werden, wobei sich hier die Frage nach der notwendigen Eignung stellt. Weiter lässt sich die Erwerbsbeteiligung in den Altersgruppen der 20- bis 30- Jährigen beziehungsweise 55- bis 65- Jährigen erhöhen. Hieraus ergibt sich rechnerisch die Möglichkeit, 63.600 Personen für den thüringischen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Das setzt allerdings voraus, dass deutlich weniger junge Menschen ein Studium aufnehmen als bisher, beziehungsweise dass weniger Menschen vorzeitig in Rente gehen (müssen). Über die Umwandlung von Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigte könnte man der Studie zufolge weitere 100.000 Vollzeit-Beschäftigte gewinnen. Glöckler zufolge dürfte auch hier abhängig von den Ursachen für die geringere Arbeitszeit nur ein Teil dieses Potenzials realisierbar sein, „weil sich Menschen freiwillig, zum Beispiel wegen individueller Arbeitszeitpräferenzen oder aufgrund ausreichenden Haushaltseinkommens dafür entscheiden, nur in Teilzeit zu arbeiten.“
Pendler und Rückkehrer
Ein exogenes Potenzial für eine Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Thüringen wird häufig in der Rückholung von Auspendelnden aus Thüringen gesehen. Vergleichsweise viele Arbeitskräfte aus Thüringen arbeiten in anderen (vor allem westdeutschen) Bundesländern, heißt es in der Studie. Dies sei vor allem auf die Lage des Freistaats zurückzuführen, da Thüringen an drei westdeutsche Länder mit tendenziell höheren Löhnen angrenzt. Die Studie betrachtet auch die Einpendelnden. Derzeit kommen rund 66.000 Menschen aus anderen Bundesländern nach Thüringen zur Arbeit. Allerdings pendeln 125.000 Thüringer wegen des Jobs in andere Bundesländer. Abzüglich aller demografischen Faktoren könnten etwa 30.000 Fernpendelnde für den heimischen Arbeitsort zurückgeworben werden. Für die Rückgewinnung von Auspendelnden sei es allerdings erforderlich, dass die Arbeitsangebote in Thüringen interessanter als an deren gegenwärtigem Arbeitsort sind. Lohnanreize und Karrierechancen spielen insoweit auch hierfür eine wichtige Rolle. Die Studie stellt auch die Frage, wie mehr Einpendelnde gewonnen werden können. Dazu müssten die Arbeitsplätze in Thüringen attraktiver sein als andernorts. Gerade mit Blick auf die Fernpendelnden unter den Einpendelnden scheint dies auch wichtig, um auswärtige Arbeitskräfte in Thüringen zu halten. „Mit zunehmendem Arbeitskräftemangel auch andernorts eröffnen sich für diese im Zweifel auch Chancen für einen wohnortnäheren Arbeitsplatz“, heißt es in dem Papier.
Die öffentliche Debatte
„Die öffentliche Debatte zielt oft darauf ab, darzulegen, welches dieser Potenziale am besten aktiviert werden sollte. Es zeigt sich aber, dass in vielen Fällen unter realistischen Annahmen alle zusammen nicht ausreichen würden, um wesentlich zur Deckung des Fachkräftebedarfs beizutragen. Rechnerische Potenziale schmelzen schnell zusammen, sobald man Qualifikationen und Altersstruktur betrachtet. Außerdem wird oft vergessen, dass die Teilnahme am Arbeitsmarkt auf freiwilligen Entscheidungen beruht“, erläutert Glöckner. Zudem stehen die Bundesländer miteinander im Wettbewerb um Fachkräfte. Menschen aus anderen Bundesländern oder gar aus dem Ausland für die Region Thüringen zu gewinnen, sei sehr schwierig. „Umso sinnvoller ist es, alternative Strategien zu verfolgen – zum Beispiel eine schnellere Digitalisierung“, sagt Glöckner.
Was sagen Wirtschaft und Politik?
Die heimische Wirtschaft braucht nach eigenen Angaben Zuwanderer. Wie Ute Zacharias vom Verband der Wirtschaft Thüringen (VWT) sagte, kann ohne sie der Bedarf an Mitarbeitenden nicht gedeckt werden. Ihrer Ansicht nach fehlt es aber an einer entsprechenden Willkommenskultur in Thüringen. VWT-Hauptgeschäftsführer Stephan Fauth lenkt den Blick auf die Zahl der Arbeitslosen in Thüringen. Sie sei gegenüber zum Vorjahr deutlich gestiegen. Das liege vor allem am Zuwachs durch die Flüchtlinge aus der Ukraine. „Diesen Flüchtlingen können, auch wenn sie noch nicht über das B1-Niveau der deutschen Sprache verfügen, geeignete Arbeitsangebote unterbreitet werden. Da braucht es noch mehr Angebote, denn Sprache lässt sich gerade auch am Arbeitsplatz erlernen und Integrationschancen werden dadurch erhöht. Angesichts der leicht gestiegenen Zahl an Langzeitarbeitslosen müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden auch diese Menschen wieder in Arbeitsverhältnisse zu vermitteln“, so Fauth. Aus der politischen Opposition im Landtag kommen unterdessen andere Töne als gewohnt. Die CDU-Landtagsfraktion will den Mangel an Fachleuten mit einer besseren Bildungspolitik angehen. Außerdem fordert sie eine gezielte Zuwanderung. Auch die AfD-Fraktion schließt nicht aus, dass der heimische Arbeitsmarkt in Zukunft Zuwanderer aus dem Ausland braucht. (tl)
Der Aufsatz von Ernst Glöckner mit dem Titel „Mit regionalen Potenzialen gegen den Fachkräftemangel“ ist in Heft 03/2023 der Zeitschrift „ifo Dresden berichtet“ veröffentlicht worden. Weitere Informationen unter: www.ifo.de