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Human Centricity wird die Branche deutlich verändern
Vor dem Branchentag Automotive
Einmal im Jahr treffen sich die Thüringer Automobil-Zulieferer zum Branchentag. Dabei beleuchtet der Branchenverband automotive thüringen e.V. (at) die Lage in diesem Wirtschaftsbereich. Außerdem tauschen sich die Zulieferer über aktuelle Trendthemen aus und holen sich dazu auch externe Experten an den Tisch. In diesem Jahr geht es um Human Centricity – also menschenzentriertes Handeln. Im Interview mit dem WIRTSCHAFTSSPIEGEL blickt at-Geschäftsführer Rico Chmelik nicht nur auf Stimmung und Lage der Thüringer Auto-Zulieferer, sondern gibt auch einen ersten Ausblick, was sich mit Human Centricity in der Branche ändern wird.
at-Geschäftsführer Rico Chmelik | Foto: at
Herr Chmelik, es gibt das geflügelte Wort, dass die Stimmung schlechter ist als die Lage. Geben Sie uns als erstes ein möglichst objektives Bild über die Lage der Thüringer Zulieferindustrie.
Die Herausforderungen des Strukturwandels sind nach wie vor Realität. Zahlreiche Unternehmen in Thüringen haben sich diesen Herausforderungen gestellt und damit begonnen, ihr Produktportfolio anzupassen, neue Produkte zu fertigen, neue Kunden zu gewinnen, zu diversifizieren. Diese Herausforderungen halten unvermindert an und werden ab 2024/25, wenn gegenwärtige Aufträge auslaufen, nochmals an Bedeutung gewinnen.
Und in dieser Situation erleben wir im dritten Jahr in Folge, dass andere Themen in den Vordergrund rücken (müssen): Energie- und Materialkosten schnellen nach oben, Stückzahlen gehen nach unten, Lieferketten stocken, Planungsunsicherheiten bestehen fort. Folge ist, dass vielfach Themen des Strukturwandels an den Rand gedrängt werden und existenzielle Fragen (Liquiditätssicherung, Personalverfügbarkeit) zum zentralen Fokus werden.
Der Austausch zwischen den Unternehmen ist kein Allheilmittel, um diese Probleme zu lösen. Aber Hinweise zu Lösungsansätzen und gemeinsamem Handeln können daraus entstehen. Als Netzwerk automotive thüringen bieten wir den Unternehmen diese Plattform.
Dann jetzt zum Gegenpol: Wie erleben Sie die Stimmung? Welche Herausforderungen beschreiben Ihre Mitgliedsunternehmen als die Größten?
Auch das Jahr 2023 hat es in sich. Unübersehbare Risiken halten die Industrie in Atem: die anhaltende Chip-Krise, Lieferengpässe und die Folgen eines unsäglichen Krieges mitten in Europa. All das hinterlässt auch in der europäischen Automobilindustrie deutliche Spuren. Die Thüringer Automobilzulieferindustrie bleibt grundsätzlich optimistisch, aber die Sorgen nehmen deutlich zu. Wir führen dazu regelmäßig Umfragen in der Thüringer Zulieferindustrie durch.
Der Stimmungsumschwung im Vergleich zum Vorjahr zeigt sich in mehreren Indikatoren. Auch wenn die Rückmeldungen zur Umsatz- und Beschäftigtenentwicklung auf dem Niveau des Vorjahres geblieben sind, zeigen drei andere Indikatoren eine deutliche Verschlechterung: Wachstumsperspektiven, Investitionsbereitschaft und Zeithorizont einer wirtschaftlichen Erholung.
Im Ranking der Herausforderungen für die Unternehmen ist die Bedeutung hoher Energie- und Materialpreise dramatisch nach oben geschnellt und wird als Herausforderung noch höher bewertet als die mangelnde Personalverfügbarkeit und die Sicherung der erforderlichen Liquidität.
Die nachvollziehbare, aber letztlich schlechte Nachricht ist, dass hierdurch Herausforderungen zur Bewältigung des automobilen Strukturwandels, zum Beispiel Fokussierung auf neue Produkte, Effizienzsteigerung durch Automatisierung, in den Hintergrund treten.
Thema des diesjährigen Branchentages ist Human Centricity. Menschenzentriertes Handeln ist ein neues Paradigma, das beim technologischen Wandel mitgedacht werden muss, heißt es dazu in der Einladung. Was heißt das konkret?
Der Trend Human Centricity in der Automobilindustrie bedeutet, dass der Fokus bei der Entwicklung von Fahrzeugen zunehmend auf die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen gelegt wird, die diese Fahrzeuge nutzen werden. Dies umfasst nicht nur die Sicherheit und den Komfort, sondern auch die Benutzerfreundlichkeit, die Personalisierung und die Nachhaltigkeit.
Konkret bedeutet dies, dass Automobilhersteller und Zulieferer verstärkt auf innovative Technologie setzen, die die Fahrt angenehmer, sicherer und effizienter gestalten, wie zum Beispiel autonome Fahrsysteme oder integrierte Entertainment-Systeme. Die Interaktion zwischen Mensch und Fahrzeug wird dabei immer wichtiger, was sich in der Gestaltung des Innenraums, der Bedienelemente und der Anzeigen zeigt.
Darüber hinaus wird die Personalisierung von Fahrzeugen bedeutungsvoller, um individuelle Bedürfnisse und Vorlieben der Kunden zu erfüllen. Dazu gehört beispielsweise die Möglichkeit, das Fahrzeug nach den eigenen Wünschen zu gestalten und auszustatten. Schließlich spielt auch die Nachhaltigkeit eine immer wichtigere Rolle in der Automobilindustrie. Im Zuge dessen setzen Hersteller vermehrt auf Elektro- und Hybridantriebe sowie auf umweltfreundliche Materialien und Produktionsprozesse.
Insgesamt wird die Ausrichtung auf die Human Centricity die Zukunft der Automobilindustrie maßgeblich beeinflussen, indem sie die Kundenzufriedenheit und Kundenbindung erhöht und somit zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen führt.
Menschenzentriertes Handeln kann ich mir bei Produkten noch ganz gut vorstellen. Was heißt das aber für den Produktionsprozess?
Im Fokus steht hierbei die Optimierung der Arbeitsbedingungen und die Steigerung der Produktivität durch die Integration von technischen Innovationen, die auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ausgerichtet sind. Durch den Einsatz von neuen Technologien wie beispielsweise kollaborative Roboter (Cobots), Augmented Reality oder Wearables können Mitarbeitende in der Produktion entlastet werden und Arbeiten effizienter durchgeführt werden. Dies führt zu einer höheren Produktivität, einer verbesserten Qualität und einer Reduzierung von Arbeitsunfällen.
Zudem ermöglicht die Human Centricity eine stärkere Individualisierung der Arbeitsumgebung, angepasst an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitarbeitenden. Hierbei spielen ergonomische Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten, Schulungen und Weiterbildungen eine große Rolle, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu fördern und deren Engagement zu steigern.
Ein weiterer Aspekt ist die Förderung der Mitarbeiterbeteiligung und der offenen Kommunikation innerhalb der Produktionsprozesse. Durch die Einbindung von Mitarbeiterfeedback und Ideen können Unternehmen schneller auf sich verändernde Marktanforderungen reagieren und flexibler auf neue Entwicklungen eingehen.
In welcher Form wird Human Centricity Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen der Branche haben, beispielsweise beim Recruiting?
Human Centricity hat einen großen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der Automobilbranche, insbesondere auch in Bezug auf das Recruiting von qualifizierten Fachkräften. Im Zuge dessen wird ein stärkerer Fokus auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden gelegt. Das bedeutet, dass Unternehmen verstärkt darauf achten werden, ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen. Dazu können zum Beispiel eine moderne Büroausstattung, flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten oder betriebliche Gesundheitsangebote gehören.
Darüber hinaus wird die Human Centricity auch Einfluss auf die Arbeitsinhalte haben. Hierbei geht es insbesondere um die Integration neuer Technologien und die Nutzung von Datenanalyse, um die Arbeitsprozesse zu optimieren und effizienter zu gestalten. Unternehmen, die hier Vorreiter sind, können sich im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte einen Vorteil verschaffen.
Branchentag Automotive
6. Juli 2023 · Ichtershausen
Erfahren Sie mehr: www.automotive-thueringen.de