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Wolf­gang Tiefen­see im Interview: „Die eigentliche Bewäh­rungs­probe kommt erst noch“

Thüringens Wirtschafts­minister zur aktuellen Lage im Land

Zu den Einheits­feier­lichkeiten rechnet der Frei­staat Thü­ringen mit rund 120.000 Gästen aus ganz Deutschland. Sie werden drei Tage lang Gelegenheit finden, Thüringen näher kennen­zulernen. Was werden sie hier sehen? Wie zeigt sich Thüringen im 32. Jahr der deutschen Einheit? Den WIRTSCHAFTS­SPIEGEL interessiert na­tür­lich vor allem der wirtschaftliche Aspekt. Wirtschafts­minister Wolfgang Tiefen­see zeichnet im WIRTSCHAFTS­SPIEGEL-Interview ein aktuelles Bild der Thüringer Wirtschaft aus seiner Sicht, spricht über die Probleme im Zusammen­hang mit den anstehenden Krisen und plädiert für den Freistaat als attraktiven Lebens- und Arbeitsort für aufstrebende junge Fach- und Führungskräfte.

Frank Seiferth, Gründer und Geschäftsführer der Seitec GmbH, im Gespräch mit Wolfgang Tiefensee und Professor Wolfgang Maaß, Leiter Forschungsbereich Smart Engineering des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) (v.l.). Foto: Susann Nürnberger

Herr Minister, Deutschland blickt zum Tag der Deutschen Einheit nach Thüringen. Wie findet es unseren Freistaat wirtschaftlich aufgestellt vor?

Thüringen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten hervorragend entwickelt. Das zeigen wichtige strukturelle Indi­katoren wie beispielsweise die Zahl der Industrie­arbeits­plätze, die Erwerbs­tätigen­quote, der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Brutto­wertschöpfung, eine niedrige Arbeits­losigkeit – in diesen und weiteren Bereichen schneidet Thüringen im Vergleich zu anderen Bundesländern überdurchschnittlich ab. Vor allem bei der Produktivität gab es in den letzten Jahren auch im gesamtdeutschen Vergleich große Fortschritte. Die größeren Thüringer Mittelständler sind inzwischen sogar produktiver als Unternehmen vergleichbarer Größe in Westdeutschland. Dasselbe gilt für die Innovationsfähigkeit: Von den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die die Wirtschaft selbst aufbringt, stammen in Thüringen gut 40 Prozent aus dem Mittelstand – bundesweit liegt dieser Wert bei lediglich acht Prozent. Die Thüringer KMU investieren also überproportional in neue Produkte und Technologien. Die Thüringer Wirtschaft ist also solide aufgestellt und hat deutlich an Robustheit und Krisenresistenz gewonnen.

Nichtsdestotrotz sind die äußeren Rahmen­bedingungen – Krieg in Europa, Energiekrise, Material­engpässe, Liefer­ketten­probleme – für unsere Unter­nehmen derzeit besorgnis­erregend, darum muss man nicht herumreden. Im Moment haben wir zwar noch keine Anzeichen für größere Schwierigkeiten in der Breite der Wirtschaft, im Gegenteil: Die Auftrags­bestände sind hoch, zuletzt sogar gestiegen, und auch die Entwicklung der Industrieumsätze im ersten Halbjahr war grundsätzlich positiv. Das heißt, die Unternehmen verkraften die Situation bisher noch ganz gut. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass es im Moment sehr viele Unwägbarkeiten gibt und die Lage sich jederzeit dramatisch ändern kann. Gerade die Preisentwicklung bei Gas und Strom ist eine existentielle Heraus­forderung und macht vielen Betrieben das Leben sehr schwer. Hier braucht es schnelle Entscheidungen und Hilfspakete vom Bund. Daneben hinaus versuchen wir in Thüringen, an den drei großen Trans­formations­heraus­forderungen dieser Zeit zügig weiterzuarbeiten: Demographie, Digitalisierung und De­karbonisierung. Gerade das dritte Thema hat in der momentanen Krise ja einen ungeahnten Bedeutungszuwachs erfahren.

Ja, wir reden über ein Land, dass immer noch mit den Folgen der Pandemie kämpft, und sich nun mit den Folgen des Krieges in der Ukraine konfrontiert sieht. Das löst auch in der Wirtschaft Sorgen aus. Sie waren auf Ihrer Sommertour im Land unterwegs und haben dabei auch zahlreiche Unternehmen besucht. Beschreiben Sie uns bitte die Stimmung, die Sie dort erlebt haben.

Die Stimmung ist angespannt, den Unter­nehmerinnen und Geschäftsführern unserer mittelständischen Betriebe stehen verständ­licherweise tiefe Sorgenfalten auf der Stirn. Was die Unternehmen jetzt allerdings nicht brauchen, sind immer weitere Appelle zur Energieeinsparung. Das Thema De­karbonisierung ist längst in der Wirtschaft angekommen. Neben dem Arbeitskräfte­mangel und Liefer­engpässen stehen Fragen der Energie­sicherheit und der exorbitant ge­stiegenen Energie­preise ganz oben auf der Agenda. Dabei muss man aber auch sehen: Die Möglichkeiten der Energieeinsparung in den Unternehmen sind begrenzt und weitgehend ausgeschöpft. Und die Umstellung der Produktion auf regenerative Energien erfolgt wegen der mangelnden Verfügbarkeit entsprechender Produkte und Installations­kapazitäten nicht so schnell wie erhofft.

Foto: Paul-Philipp Braun

Also dann konkret zum wichtigen Thema der Energiepreise. Sie beschreiben dies als existenzielle Herausforderung. Das ist nichts, was Thüringen aus eigener Kraft allein stemmen könnte. Welche Forderungen machen Sie an den Bund auf?

Erstens: Es braucht eine massive Unterstützung gerade der mittelständischen Betriebe in Industrie und Handwerk, sonst wird spätestens im Winter eine Insolvenz­welle durch das Land rollen. Die derzeitige Fokussierung der Energie­politik auf Privathaushalte und energieintensive Industrien greift zu kurz. Wir brauchen gerade für die kleinen und mittleren Betriebe finanzielle Hilfe im Mangelfall – und mittelfristig zur Um­stellung ihrer Produktion.

Zweitens: Wir brauchen schnellstmöglich eine Neuordnung des Strommarkts und ins­besondere eine Entkopplung vom Gasmarkt, um das Überspringen der rasant steigenden Gaspreise auf die Stromkosten zu verhindern. Spekulative Preisspitzen, wie wir sie gerade erleben, müssen unterbunden werden.

Drittens: Keine Denkverbote bei der Beantwortung der Frage, wie wir energie­politisch durch die nächsten Monate kommen! Ein Herunterfahren von Kraftwerken, die laufen und zur Bewältigung der Energiekrise beitragen können, sollte in der momentanen Situation eigentlich ausgeschlossen sein.

Und viertens: Wir sollten die Diskussion über einen europäischen Gaspreisdeckel führen, wie er in einigen Ländern bereits beschlossen worden ist. Aus meiner Sicht kann die Einführung einer solchen Preisbremse allerdings nur auf europäischer Ebene erfolgen.

Bei den Entlastungen reden wir zum Beispiel über Direktzahlungen, Energie­preis­deckel, sicherlich auch steuerliche Er­leichterungen. In jedem Fall plädiere ich dafür, in der Wirtschaft nicht den Mittelstand und unter den Privathaushalten nicht die Mittelschicht aus den Augen zu verlieren. Die gehören mit unter den Schutzschirm, denn das sind diejenigen, die die Räder am Laufen halten.

Wolfgang Tiefensee

Wirtschaftsminister, Thüringen

Als Sozialdemokrat wird bei Ihnen die Debatte um die Gaspreisumlage zwiespältige Gefühle ausgelöst haben. Einerseits müssen Sie die einheimische Wirtschaft im Blick haben, andererseits kann Ihnen die Lage der Privathaushalte nicht egal sein, zumal die Löhne im Freistaat immer noch nicht auf dem Niveau sind, auf dem man sie sich wünscht. Haben Sie dafür politische Lö­sungs­vorschläge?

Nicht so sehr die Umlage ist das Problem, sondern die Frage, wie sie umgesetzt wird und welche Entlastungen es auf der anderen Seite für einkommensschwächere Haushalte und für mittelständische Unternehmen gibt. Es war sicher nicht intendiert, dass sich profitable  Gasversorger oder solche, die bereits im Vorfeld Milliardengewinne eingefahren haben, massiv an der Umlage bedienen sollten. Da gab es im Vorfeld handwerkliche Fehler, hier muss der Bund nachbessern.

Bei den Entlastungen reden wir zum Beispiel über Direktzahlungen, Energie­preis­deckel, sicherlich auch steuerliche Er­leichterungen. In jedem Fall plädiere ich dafür, in der Wirtschaft nicht den Mittelstand und unter den Privathaushalten nicht die Mittelschicht aus den Augen zu verlieren. Die gehören mit unter den Schutzschirm, denn das sind diejenigen, die die Räder am Laufen halten.

Anderes Thema. Die Thüringer Wirtschaft ist traditionell eng mit Russland verbunden. Auch das stellt so manches Unternehmen vor Probleme. Was überwiegt derzeit: Forderungen nach Lockerungen der Sanktionen oder Einsicht in die Notwendigkeit? Und vor allem: Wie gehen die betroffenen Unter­nehmen damit um?

Meine Gespräche führen zu einem differenzierten Blick: Die überwiegende Mehrheit spürt nahezu keine Nachteile. Einige, mit Russland besonders verwobene Unternehmen erleiden deutliche wirtschaftliche Einbrüche. Ich glaube, im Moment gibt es durchaus eine vergleichsweise breite Unterstützung dafür, die Aggression Russlands nicht einfach klag- und sanktionslos hinzunehmen. Aber die eigentliche Bewährungsprobe kommt erst noch, wenn es draußen kalt wird und die Energiezähler schneller laufen. Hier und da bröckelt die Unterstützung bereits schon, wie etwa der Offene Brief von Handwerkern aus Sachsen-Anhalt an den Bundeskanzler zeigt. Klar ist: Es hängt jetzt viel davon ab, wie die Politik die Rahmen­bedingungen gestaltet, welche Maß­nahmen und Hilfspakete zur Abfederung auf den Weg gebracht werden. Wenn sich die Betriebe hier mitgenommen und unterstützt fühlen, dann wird es aber überwiegend bei der Einsicht in die Notwendigkeit bleiben, davon bin ich überzeugt.

Sie sind ein erfahrender Polit-Profi, der auch viel in der Welt herum­gekommen ist. Glauben Sie, dass Russland in absehbarer Zeit wieder ein vollwertiges Mitglied der Völkergemeinschaft sein kann?

Das ist eine schwierige Frage, deren Be­antwortung vom Verhalten vieler Akteure, in erster Linie natürlich Russlands selbst abhängt. Ich bin der Auffassung, dass man grundsätzlich immer gesprächs- und kompromissbereit sein muss. Anders lassen sich festgefahrene Si­tuationen doch gar nicht aufbrechen und irgendwie zum Positiven verändern. Also ja, ich bin optimistisch, dass Russland langfristig fundamentale Veränderungen in Politik und Gesellschaft vornimmt, die seine vollwertige Anerkennung in der Völkergemeinschaft er­möglicht.

Die Thüringer Wirtschaft ist also solide aufgestellt und hat deutlich an Robustheit und Krisenresistenz gewonnen.

Wolfgang Tiefensee

Wirtschaftsminister, Thüringen

Zum Schluss noch eine persönliche Frage, Herr Minister. Wenn man es bei Lichte betrachtet, gehören Sie zu den Menschen, nach denen die Thüringer Wirtschaft gerade sucht – wenngleich Sie selbst sicher nicht als Blaupause dienen können. In Thüringen geboren, dann des Jobs wegen aus Thüringen weg­gegangen, jetzt wieder hier. Warum ist Thüringen für Sie ein Ort, der attraktiv für sogenannte High-Pro­fessionals aus Deutschland und der Welt ist?

Ehrlich gesagt, der Begriff ist mir zu speziell. Thüringen ist ein hochattraktiver Platz für Arbeits- und Fachkräfte aus allen Bereichen. Wer schnell Verantwortung übernehmen möchte, ist in Thüringen richtig, denn bei uns sind die Struk­turen überschaubar, die Betriebe mittel­ständisch, da dauert der Weg in eine Füh­rungsposition nicht Jahrzehnte. Die Firmen suchen händeringend, es lohnt sich, hin­zuschauen und sich als Einsteiger jobmäßig nicht immer nur auf die Großkonzerne und  geographisch auf ein paar vermeintlich hippe Großstädte zu fixieren. Wer gründen will, findet in Thüringen Unterstützung über alle Phasen eines Gründungsprozesses.

Nicht umsonst schneidet der Freistaat in vielen Gründer-Rankings gut ab, zuletzt beispielsweise beim Deutschen Start-up-Monitor mit drei er­folg­reichen Jungunternehmen. Und übrigens: Auch High-Professionals gründen Familien – in Thüringen ist das Umfeld dafür hervorragend, Kindergartenplätze sind verfügbar, Schulwege überschaubar. Hier lässt es sich gut leben, und das weiß gerade auch eine nachrückende, jüngere Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu schätzen, für die eine ausgewogene Work-Life-Balance deutlich mehr zählt als für meine oder Ihre Generation.

Interview: Torsten Laudien

Portraitfoto: spdfraktion.de (Susi Knoll/Florian Jänicke)

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