Wir wollen die automobilen Zukunftskompetenzen bündeln

Dieselskandal, Klimakrise, Pandemie – das sind nur einige der Faktoren, die in den letzten Monaten Einfluss auf die Wirtschaft als Ganzes genommen haben.

Rico Chmelik, Geschäftsführer des Branchenverbandes automotive thüringen e.V. (at) | Foto: Mario Hochhaus

Die Autoindustrie ist davon in besonderem Maße betroffen. Wenn wir also über Mobilität der Zukunft nachdenken, hat das Auswirkungen auf viele Bereiche. Im Kern steht aber die Automotive-Branche. Deren Thüringer Verband automotive thüringen e.V. (at) hat sich schon sehr früh dieser Themen angenommen. Im Interview mit dem WIRTSCHAFTSSPIEGEL nimmt at-Geschäftsführer Rico Chmelik eine Bestandsaufnahme vor und spricht über die Strategien, die diesen für Thüringen so wichtigen Wirtschaftszweig zukunftssicher machen sollen.

Herr Chmelik, die Automobilindustrie gilt als Sorgenkind der Wirtschaft in Deutschland. Sie kennen sowohl die Lage als auch die Stimmung in der Branche hier in Thüringen. Wie dramatisch ist es? Kommen die at-Mitglieder gut mit der Transformation in Richtung E-Mobilität klar?

Die Automobilwirtschaft hat sich während der Pandemie als robust behauptet. Steigende Aufträge und stabile Auftragsbücher zeigten in den letzten Wochen eine langsame Erholung. In unserer Frühjahrsumfrage haben wir zudem erneut 190 Zulieferunternehmen mit insgesamt 55.000 Beschäftigten zur aktuellen Lage in der Thüringer Automobilindustrie befragt (siehe auch Beitrag ‚Trotz Corona und Strukturwandel‘). Neben den Geschäftserwartungen im Jahr 2021 wurden Einschätzungen zur Elektromobilität und Personalverfügbarkeit abgefragt. Die Ergebnisse zeigen einen verhaltenen Optimismus. Mehr als 60 Prozent der Unternehmen benötigen keine Kurzarbeit mehr. Ebenfalls 80 Prozent der Betriebe erwarten, dass ihre Beschäftigtenzahlen konstant bleiben oder sich sogar erhöhen werden. Mehr als 40 Prozent der Unternehmen erwarten, dass in den nächsten 6 bis 12 Monaten das Vorkrisen-Niveau in der Produktion wieder erreicht werden kann. Etwas mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Firmen stellt sich hingegen auf eine Erholungsphase von über 12 Monaten ein.

Und wie schon in unseren letzten Umfragen bestätigen 72 Prozent der Unternehmen Aufträge für die Produktion von Elektrofahrzeugen. Diese Umsatzkomponente ist von hoher Bedeutung, da Fahrzeuge mit konventionellen Antrieben mit eher rückläufigen Stückzahlen verbunden sind, während die Elektromobilität boomt. 65 Prozent der Unternehmen gehen davon aus, dass dieses Jahr weitere Umsatzsteigerungen durch Elektrofahrzeuge zu erwarten sind.

Ein großes Problem während der Pandemie sind die Lieferketten – und das in beide Richtungen. Entweder es fehlt an Zulieferungen oder man wird seine Produkte nicht los. Wie geht es den at-Mitgliedsfirmen in dieser Hinsicht?

Der positive Konjunkturtrend wird in zunehmenden Maße durch Materialknappheit bei gleichzeitig steigenden Rohstoffpreisen bedroht. Die Betriebe der automobilen Zulieferindustrie haben dies in dieser Dimension noch nicht erlebt. Wir sehen aktuell ein widersprüchliches Bild. Die Auftragsbücher sind voll, die Perspektiven gut, die Nachfrage ist da – und jetzt fehlt das Material. Die derzeitige Materialknappheit erschwert vielen Unternehmen nicht nur die Abarbeitung bereits angenommener Aufträge. Auch das Annehmen neuer Aufträge wird für unsere Mitgliedsunternehmen angesichts der hochdynamischen Entwicklung der Rohstoffpreise zur Herausforderung bei der Angebotskalkulation. Uns wird berichtet, man müsse bereits feste Materialbedarfe monatsgenau für das nächste halbe Jahr dem Vorlieferanten melden. Die Beherrschung dieser Planungsunsicherheit bei gleichzeitigem Preisdruck wird zu einer weiteren olympischen Disziplin in der Zulieferindustrie.

Ein weiterer Dauerbrenner auf der Problemliste ist der Fachkräftemangel. Allerdings gingen auch Meldungen über Schließungen von Zulieferbetrieben durch die Presse. Wie drängend ist das Problem für die Branche?

Personalverfügbarkeit ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die Unternehmen. Bei unserer Frühjahrsumfrage kam heraus, dass 40 Prozent der Unternehmen ihre offenen Stellen nicht besetzen können. Dies ist ein beunruhigendes Ergebnis. Als Ursachen nennen die Unternehmen Fachkräfte- und Bewerbermangel und insbesondere fehlende Qualifikationen. Dieser Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern – den wird sich nach Meinung der Unternehmen bis 2025 eher noch verstärken. Zu erwartende Engpässe sehen sie insbesondere bei Ingenieuren, Mechatronikern, IT- und Automatisierungsfachleuten, Qualitäts- und Entwicklungsmitarbeitern. Engpässe werden aber auch im Werker-Bereich auf dem Shopfloor erwartet, außerdem ein Mangel an Beschäftigten, die bereit sind, Führungsverantwortung zu übernehmen.

Wie können Unternehmen auf dieses Problem reagieren? Was kann Ihr Verband dafür tun?

Der Strukturwandel findet immer an konkreten Arbeitsplätzen statt, deren Anforderungs- und Qualifikationsprofile sich zügig verändern. Da die Automobilindustrie in Thüringen für die Entwicklung der Region eine herausragende Bedeutung hat, ist eine Aus- und Weiterbildungsoffensive dringend geboten, um den Personal- und Qualifikationsbedarf in den Zukunftsfeldern der künftigen Automobilproduktion erfüllen zu können. Dies ist eine der Empfehlungen der 2018 vorgestellten Tiefenanalyse, die auch dazu dient, die Standortattraktivität Thüringens für Unternehmen und Beschäftigte weiter zu festigen und zu verbessern. Um diese Zielsetzung zu erreichen, wollen wir die automobilen Zukunftskompetenzen, den Kompetenzbedarf in der Region, vorhandene Qualifizierungsangebote und weitergehende Aus- und Weiterbildungsinitiativen durch Bildungsträger in der Region bündeln. Wir versuchen zudem über Standortmarketing das Vertrauen in die Branche zu steigern und auch die Lust und Laune an einer Arbeit im Automobilbau zu wecken.

Damit sind wir bei den künftigen Entwicklungen. Wo sehen Sie die Zukunftsfelder für die Branche in Thüringen?
Unsere Tiefenanalyse hat ergeben, dass in den Sektoren Interieur und Elektrik, Elektronik ein unglaubliches Wachstumspotenzial liegt. Thüringen ist im Bereich des Zukunftsfeldes E-Mobilität sehr gut unterwegs, auch dank des Engagements von bestehenden und neuen Lieferanten rund um Batterie, Batterie- und Thermomanagement sowie Hybrid-Technologien in Westthüringen. Hier entsteht etwas Neues von Gewicht, mit in der Perspektive bis zu 5.000 Arbeitsplatzen. Nach der Interieur-Studie starten wir jetzt mit der Umsetzung eines Innovations-Clusters im Verbund mit Firmen aus der Region. Dies hat sehr gute Perspektiven für die neue Generation von elektrischen Fahrzeugen. Im Segment der leichten Nutzfahrzeuge haben wir im März gemeinsam mit CATI eine Studie vorgestellt – ein Bereich, der erst jetzt gerade die E-Mobilität entdeckt. (siehe auch Beitrag ‚Elektroauto-Neuzulassungen bundesweit mehr als verdreifacht‘) Potenziale gibt es in Thüringen bei Lieferanten und Aufbauherstellern. Wir sehen daher gute Chancen für Lieferanten mit Leichtbau-, Interieur- und Elektronik-Kompetenz, sich neue Geschäftsfelder im Segment der leichten Nutzfahrzeuge zu erschließen. Hinzu kommen Überlegungen, ausgewählte Teilbereiche aus dem Zukunftsfeld Autonomes Fahren zu forcieren. Wie bereits in der Tiefenanalyse herausgestellt, denken wir hier insbesondere an Themenfelder, in denen die Kompetenzen der Region im Bereich Photonik, Opto-Elektronik und Sensorik besonders gefragt sind. Dies muss in Abstimmung mit potenziellen Akteuren noch konkretisiert werden.

Ist das Thema Wasserstoff damit vom Tisch?

Die Wasserstofftechnologie ist mittlerweile als wichtiges Element einer Energiewende zur Erreichung klimapolitischer Ziele anerkannt, sofern dieser auf Basis erneuerbarer Energien hergestellt wird. Das Spektrum der möglichen Einsatzgebiete reicht von stationären Anwendungen zur Dekarbonisierung energieintensiver Industrieprozesse (z.B. Stahlerzeugung) bis zur wasserstoffbasierten Mobilität (Nutzfahrzeuge, Züge, Schiffe). Allein dies erfordert es, Kompetenzen und Kapazitäten entlang der gesamten Wertschöpfungskette aufzubauen. Als Antriebstechnologie für den PKW-Bereich hat diese Technologie in Europa bis zum Ende des Jahrzehnts allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung. Erprobung der Technologie ja, Grosserieneinsatz nein – so die gegenwärtige Strategie aller europäischen Automobilhersteller. Doch dies ist nicht die einzige Sichtweise der Branche. Zulieferer wie Bosch und Continental warnen vor der einseitigen Fokussierung auf batterieelektrische Antriebe. Bosch plant, ab 2022 selbstgefertigte Brennstoffzellen-Systeme auf den Markt zu bringen und geht davon aus, dass bis 2030 weltweit 20 Prozent aller Elektrofahrzeuge über einen Brennstoffzellen-Antrieb verfügen. Vergleichbare Ansagen kommen sonst nur von asiatischen Herstellern, allen voran Toyota und Hyundai. Für Toyota gehört die Brennstoffzelle zum Antriebsportfolio der Zukunft. Auch Hyundai liefert gerade Fuel-Cell-Trucks in die Schweiz. Und im PKW-Bereich baut Hyundai zügig immense Kapazitäten für Brennstoffzellen-Fahrzeuge auf.

Einstellen auf neue Marktbedingungen hat immer etwas mit Investitionen zu tun. Wie schätzen Sie das Investitionsklima unter Ihren Mitgliedsfirmen ein?

Bemerkenswert ist, dass sich die mittelfristigen Perspektiven der Unternehmen grundsätzlich nicht verdüstert haben. Wie schon im Vorjahr erwarten mehr als 30 Prozent der Unternehmen ein Wachstum und über 50 Prozent eine Bestandssicherung an ihren Standorten. Dabei hat sich die mittelfristige Investitionsbereitschaft gegenüber dem Vorjahr sogar noch leicht verbessert. Erfreuliche 75 Prozent der Unternehmen planen mittelfristig an ihren Thüringer Standorten Investitionen. Allerdings darf man den Blick auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht verlieren. Gesetzliche Faktoren setzen die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland unter erheblichen Druck. Die bestehenden Unsicherheiten über die künftige Ausgestaltung der deutschen Klima- und Energiepolitik unterstützen diese problematische Lage. Für die Zulieferindustrie und den Maschinenbau als wichtigen Ausrüster sind die im internationalen Vergleich hohen Strompreise darüber hinaus zu einer enormen Belastung geworden. Zudem ist dieser Umstand für Investitionsentscheidungen nachteilig. Deutschland muss aufpassen, dass sich seine Wettbewerbsposition im internationalen Vergleich nicht verschlechtert. Die deutsche Automobilbranche und mit ihr die Unternehmen der Zulieferindustrie tun alles, um die Krise zu überstehen. Dabei darf der Automobilstandort Deutschland nicht an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

Zum Schluss noch eine Frage: Die Thüringer Wirtschaftspolitik hat vor einiger Zeit eine Automotive Agenda auf den Weg gebracht. Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Unternehmen?

Die Agenda gibt einen Rahmen, das Ziel und die Strategie vor, wie der Transformationsprozess bewältigt werden kann. Thüringen ist das einzige Bundesland mit einer solchen Agenda. Ich sage immer, das Dokument ist wie ein Kochrezeptbuch, das jederzeit weiterentwickelt wird. Und wir geben auch unsere Zutaten mit hinein. Zum Beispiel Innovation – und zwar im Zusammenspiel mit den Unternehmen, weil es die ja am Ende betrifft. Da sind wir sehr schnell beim Thema „Vertrauen untereinander herstellen“. Politik kann hier wertvolle Impulse geben und Türen öffnen, die zuvor verschlossen waren. Wir bieten dann eine Vernetzungsplattform, auf der Kompetenzen sinnvoll miteinander geteilt werden können. Hier geht es dann um die Generierung neuer Produkte. Denn das schafft neue Wertschöpfung und neue Arbeitsplatze in Thüringen.

Interview: Torsten Laudien

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