Sorgen um Liquidität und Fachkräfte nehmen weiter zu

Interview mit at-Geschäftsführer Rico Chmelik

Die Thüringer Automobilindustie, die vor allem durch die Zulieferer geprägt ist, unterliegt derzeit einem tiefgreifenden Wandel. Aber wie stellt sich das genau dar? Was sind die größten Sorgen in der Branche? Was heißt das für den Produktionsstandort? Wie kann man dem Problem fehlender Fachkräfte begegnen? Und wo liegen die Chancen für die Unternehmen?

Im Interview mit WIRTSCHAFTSSPIEGEL-Chefredakteur Torsten Laudien beantwortet der Geschäftsführer des Branchenverbandes automotive thüringen e.V. (at), Rico Chmelik, diese und andere Fragen.

Rico Chmelik, Geschäftsführer des Branchenverbandes automotive thüringen e.V.

Herr Chmelik, wir haben in den letzten Jahren oft und viel über die nötigen Transformationsprozesse in der Automobilbranche gesprochen. Oftmals ist auch von disruptiven Prozessen die Rede. Zunächst also zur Begriffsklärung. Befindet sich die Autobranche in der Transformation oder doch eher in einer Disruption?

Die Tiefenanalyse von 2018 hat sehr deutlich gezeigt, dass sich die Automobilindustrie weltweit in einem tiefgreifenden Strukturwandel befindet, der die Branche in den nächsten Jahren grundlegender verändern wird als dies in den letzten 100 Jahren ihrer Entwicklung der Fall war. Die damit verbundenen Schlagworte Transformation, Disruption und Konversion versuchen das Besondere des gegenwärtigen Strukturwandels der Automobilindustrie zu charakterisieren. Von einer Schwarz-Weiß-Malerei in die eine oder andere Richtung würde ich daher nicht sprechen. Vielmehr ist der gegenwärtige Strukturwandel der Branche dadurch geprägt, dass alle Einflussfaktoren der automobilen Wertschöpfung, also Markt, Produkt und Prozess, zeitgleich einer intensiven Veränderung unterworfen sind. Dies hat es in dieser Ausprägung noch nicht gegeben.

Von dieser Entwicklung sind übrigens alle Akteure der Automobilindustrie betroffen. Sowohl Hersteller als auch Lieferanten und Dienstleister. Für die Automobilhersteller stehen Kernkompetenzen und Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand. Für die Automobilzulieferer, die heute bereits zirka 70 Prozent der automobilen Wertschöpfung auf sich vereinen, ergeben sich – in Abhängigkeit vom jeweiligen Produktportfolio – möglicherweise nicht unerhebliche Risiken.

Der gegenwärtige automobile Strukturwandel wird darüber hinaus durch Innovationen und neue Geschäftsmodelle aus anderen Branchen geprägt, die sich aufgrund der Digitalisierung mit einer rasanten Umsetzungsgeschwindigkeit verbreiten.

 

Jetzt kommen zu allem noch zwei Krisen: Die eine – Corona und deren Auswirkungen – begleitet uns schon seit zwei Jahren. Die andere, nämlich der Ukrainekrieg, ist neu. Vor diesem Hintergrund: Wie schätzen Sie die Lage der Branche in Thüringen ein?

Das Jahr 2022 hat es in sich. Kaum ebben die Folgen der Pandemie etwas ab, türmt sich eine neue Bugwelle unübersehbarer Risiken auf: anhaltende Chip-Krise, Lieferengpässe und die Folgen eines unsäglichen Krieges mitten in Europa. All das hinterlässt auch in der europäischen Automobilindustrie deutliche Spuren, wie die Absatzzahlen des ersten Quartals zeigen. Die Thüringer Automobilzulieferindustrie bleibt grundsätzlich optimistisch, aber die Sorgen nehmen deutlich zu.

Wir haben dazu Mitte Mai eine Umfrage zu den absehbaren Folgewirkungen der aktuellen Krisen auf Thüringer Standorte der Automobilindustrie unter 195 Zulieferunternehmen mit insgesamt 55.000 Beschäftigten durchgeführt. Neben den Geschäftserwartungen im Jahr 2022 wurden Einschätzungen zur Umsatzentwicklung und Liquidität abgefragt. Die Ergebnisse sind in ihrer Deutlichkeit bedrückend.

Nahezu 50 Prozent der Unternehmen erwarten in 2022 ein hohes beziehungsweise sehr hohes Liquiditätsrisiko, das sich in steigenden Preisen/ Kosten bei Energie und Material sowie ausbleibenden Abrufen der Kunden begründet.

Eine weitestgehend gute Zahlungsmoral ist ein Lichtblick in der Liquiditätskrise. 70 Prozent der Unternehmen bestätigen eine Einhaltung der Zahlungsziele durch ihre Kunden.

Trotz der vorgenannten Risiken gehen die Unternehmen weit überwiegend (zirka 80 Prozent) davon aus, dass die Umsatzentwicklung 2022 gegenüber dem Vorjahr konstant bleibt beziehungsweise sich sogar erhöht. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die erwartete Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in 2022.

 

Was beschreiben Ihre Mitgliedsunternehmen als die derzeit größten Herausforderungen?

Die Sorgen um Liquidität und Personalverfügbarkeit nehmen weiter zu. Die größte Herausforderung der Unternehmen – die Personalverfügbarkeit – ist nicht neu, aber das zunehmende Ausmaß mangelnden Personals ist sehr besorgniserregend für die weitere Entwicklung.

80 Prozent der Unternehmen geben in unserer Mai-Umfrage an, dass sie heute schon nicht mehr alle offenen Stellen besetzen können. Folgen sind Zusatzbelastungen durch längere Vakanzen bei der Stellenbesetzung, Anpassung von Einstellungskriterien und höhere Qualifizierungsaufwendungen und beschleunigte Automatisierung.

Die gegenwärtig belastenden Versorgungsrisiken und Verwerfungen der globalen Lieferketten werden voraussichtlich von temporärer Natur sein. Liquiditätsgefährdende Preissteigerungen bei Energie-, Material- und Logistikkosten sowie die mangelnde Personalverfügbarkeit werden hingegen auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Diese stellen eine zusätzliche Herausforderung für die Unternehmen dar, um im automobilen Strukturwandel zu bestehen.

 

Das Stichwort Liquidität nehme ich gern auf. Worin begründet sich diese Sorge – die Auftragsbücher sind doch angeblich voll?

Die Sorgen begründen sich vor allem in steigenden Energie- und Materialkosten sowie in starken Schwankungen bei den Abrufen durch die Kunden. Aber auch bei gesetzlichen Vorgaben und bestehenden Regelungen in Deutschland, auch im innereuropäischen Vergleich, bewertet die hiesige Zulieferindustrie die Rahmenbedingungen zunehmend existenzbedrohend. Gesetzliche Faktoren setzen die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland unter erheblichen Druck. Die bestehenden Unsicherheiten über die künftige Ausgestaltung der deutschen Industrie- und Energiepolitik unterstützen diese problematische Lage.

Schon seit längerem ist die Situation in Deutschland durch sich ständig ändernde Verordnungen, Verfügungen und Erlasse dynamisch. Der Würgegriff der Corona-Pandemie mit Umsatzeinbußen seit Beginn 2020 und die jetzigen Krisen belasten die Thüringer Zulieferindustrie einmal mehr neben dem ohnehin schon zusätzlich stattfindenden automobilen Strukturwandel.

Für die Zulieferindustrie und den Maschinenbau als wichtigen Ausrüster sind die im internationalen Vergleich hohen Strompreise darüber hinaus zu einer enormen Belastung geworden. Zudem ist dieser Umstand für Investitionsentscheidungen nachteilig. Deutschland muss aufpassen, dass sich seine Wettbewerbsposition im internationalen Vergleich nicht verschlechtert. Die deutsche Automobilbranche und mit ihr die Unternehmen der Zulieferindustrie tun alles, um die Krise zu überstehen. Dabei darf der Automobilstandort Deutschland nicht zusätzlich weiter belastet werden.

 

Dann kommen wir jetzt zum Thema Fachkräfte. Es gingen Meldungen über Schließungen von Produktionsstandorten durch die Medien. Angesichts dessen müssten doch die Firmen, die Fachkräfte suchen, vor Freude in die Hände klatschen. Löst sich so das Problem möglicherweise in Teilen von selbst? Dann bliebe die Frage: Wie überzeugt man Menschen davon, für einen neuen Job ihren eigentlichen Lebensmittelpunkt – zumindest in Teilen – zu verlassen?

Seite Ende 2021 arbeiten wir mit dem Chemnitz Automotive Institute (CATI) an einer Studie zur „Kompetenzentwicklung Zukunft Automobil in Thüringen“. Auftraggeber ist die Thüringer Agentur Für Fachkräftegewinnung (ThAFF). Im Projekt werden sowohl die Bedarfe an künftig notwendiger Kompetenzentwicklung ermittelt als auch aktuelle Kompetenzprofile der Unternehmen in Thüringen erhoben.

Daraus werden wir Vorgehensweisen für die Fachkräftequalifizierung ableiten. Die Studie, die im Rahmen des Projektes Thüringer Kompetenzverbund Automotive (TKA) im Spätsommer 2022 veröffentlicht werden soll, beabsichtigt im Ergebnis, den beteiligten Akteuren aus Politik und Wirtschaft passgenaue Handlungsempfehlungen bereitzustellen.

Zur Bewältigung des automobilen Strukturwandels stellt nicht zuletzt eine frühzeitige und auf Zukunftsfelder ausgerichtete Kompetenzentwicklung eine unverzichtbare Voraussetzung dar.

 

Gehen wir mal ins Detail. Müssen Unternehmen umdenken, die direkt Mitarbeitende für spezielle Aufgaben suchen, oder sollte vielmehr die betriebliche Qualifikation mehr in den Vordergrund rücken?

Im Zentrum des automobilen Strukturwandels stehen Veränderungen im Produkt mit neuen Antrieben, neuen Materialien, neuen Fahrzeugplattformen und neuen Elektronik- und Software-Architekturen, die wiederum Veränderungen in der automobilen Wertschöpfung zur Folge haben.

Bestimmte Wertschöpfungsumfänge werden überflüssig und entfallen und andere Wertschöpfungskomponenten bestehen fort, müssen aber für neue Anforderungen modifiziert werden. Und bislang nicht benötigte Wertschöpfungsleistungen müssen neu entwickelt und aufgebaut werden. Dies geschieht parallel und gleichzeitig mit einem Nebeneinander von Arbeitsplatzentfall, Arbeitsveränderung und Arbeitsplatzaufbau.

Das heutige Anforderungs- und Qualifikationsprofil der Automobilzulieferindustrie verdeutlicht, dass Ergänzungsqualifikationen beim Bestandspersonal insbesondere für das Beschäftigungssegment der Fachkräfte und Aufstiegsqualifikationen von wesentlicher Bedeutung sind.

 

Richten wir zum Abschluss den Blick nach vorn. Auf welchen Feldern sehen Sie die Zukunft für die Thüringer Automobilzulieferer und wie schätzen Sie die Chancen der Branche in Thüringen ein?

Unsere Studien und Analysen verweisen auch darauf, dass die neuen Generationen von Fahrzeugen erhebliche Chancen in Produktbereichen abseits des Antriebs mit sich bringen. Diese Chancenpotenziale liegen zuvorderst in der Elektronik, dem Interieur und im Bereich Software.

Wir greifen diese Themen auf und bauen in Innovationsprojekten neue Wertschöpfungsnetzwerke auf, mit dem Ziel, in der Region vorhandene Potenziale aus Industrie und Wissenschaft projektorientiert zu bündeln. So haben wir im letzten Jahr ein neues Innovationscluster „Interieur der Zukunft aus der Zulieferindustrie“ (IZZI) mit derzeit 18 Partnern aufgebaut, das mit konkreten Projektideen einhergeht und die verschiedenen Kompetenzen der beteiligten Unternehmen sinnvoll und richtig zusammenführt.

Eine weitere Chance für die Thüringer Zulieferindustrie besteht im Produktbereich Elektronik und Software im Zuge des hochautomatisierten und autonomen Fahrens mit vernetzten Fahrzeugen sowie im Bereich der leichten, elektrischen Nutzfahrzeuge (LCV). Wir beabsichtigen dazu Möglichkeiten für regionale und überregionale Verbundvorhaben zu untersuchen und anschließend weitere Projekte zu diesen Themen zu entwickeln. Hierzu haben wir mit dem Thüringer Innovationszentrum Mobilität (ThIMo) eine neue Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Beide – at und ThIMo – ergänzen sich hervorragend, so dass wir künftig noch gezielter und intensiver Projektideen mit den Partnern aus der Industrie und Forschung entwickeln und umsetzen können.

Ob neue Konzepte der Fahrzeugelektrik, Vernetzung und IT, oder Leichtbau im Automobilbau und bei Nutzfahrzeugen – diese und weitere Themen wollen wir mithilfe der strategischen Kooperation künftig fokussiert mit der regionalen Zulieferindustrie umsetzen. Mit dieser Partnerschaft soll auch der Kontakt zwischen Wirtschaft und Wissenschaft inner- und außerhalb Thüringens noch einfacher und effektiver werden. Mit der Zusammenarbeit können Bedarfe der Thüringer Automobil- und Zulieferindustrie noch schneller vermittelt und durch die Wissenschaftler des ThIMo adressiert werden.

Interview: Torsten Laudien

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