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Sind digitale Plattformen Chance für den Thüringer Mittelstand?
Manchmal kommt man sich vor wie beim Bullshit-Bingo. Wenn von Digitalisierung die Rede ist, fallen Schlagwörter ohne Ende. Immer wieder hört oder liest man vom Segen der digitalen Plattform-Ökonomie. Aber was ist das wirklich? Louise Meier hat ihre Masterarbeit zu diesem Thema im Fachgebiet Wirtschaftstheorie an der Technischen Universität Ilmenau geschrieben. In ihrem Fachbeitrag bringt sie Licht ins Dunkel.
Plattformökonomie | Foto: MooseD – stock.adobe.com
Plattformmärkte gelten als erfolgsversprechendes Geschäftsmodell der Digitalisierung. Dabei wird die digitale Plattform gern als Sammelbegriff für allerlei digitale Geschäftsmodelle aufgeführt. Doch ist jedes digitale Geschäftsmodell gleichzeitig eine digitale Plattform? Warum der inflationäre Gebrauch des Wortes enden sollte, und warum es für das eigene Geschäftsgebaren wichtig ist, zu verstehen, was sich wirklich hinter dem Begriff verbirgt. Ein Erklärungsversuch.
Das perfekte Geschäftsmodell?
Es klingt nach dem perfekten Geschäftsmodell: Ich kenne zwei Marktseiten in meiner Region, die ich durch meine digitale Plattform zusammenbringe. Die Marktseiten kommunizieren, tauschen Dienstleistungen und Waren aus. Ich profitiere als Plattform-Unternehmen durch Transaktions- und Servicegebühren, ohne je eigene Waren vorzuhalten, maximiere meine Gewinne durch Transaktionen der beiden Marktseiten, und dies sogar mit stetig sinkenden Grenzkosten, die irgendwann bei null liegen. Die Sache kann jedoch auch einen Haken haben: nämlich, wenn solch eine Plattform bereits existiert. Denn Plattformmärkte, auch „zwei- oder mehrseitige Märkte“, unterscheiden sich in ihrer Funktion grundlegend von klassischen („einseitigen“) Märkten, und verschieben auf diese Weise bekannte Angebots- und Nachfragemodelle, Machtverhältnisse und Wertschöpfungsanteile. Wenn das eigene Geschäftsmodell auf einer Plattform basiert, ist es also ratsam, die Wirkungsprinzipien von Plattformen zu verstehen, da diese den Erfolg einer Plattform bestimmen – oder eben den Misserfolg.
Was ist eine digitale Plattform?
Eine digitale Plattform ist ein Vermittler in einem zwei- oder mehrseitigen Markt. Sie verknüpft zwei oder mehrere unterschiedliche Akteursgruppen (Kunden, Lieferanten, Nutzer, Dienstleister). Die Plattform stellt eine offene Infrastruktur zur Verfügung und bestimmt die Regeln für den Austausch. Die Akteursgruppen profitieren jeweils von der Größe der anderen Gruppe/n. Durch die Verbreitung des Internets erlebte das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen im B2C-Bereich einen enormen Zuwachs. Die wichtigsten Plattformen kennt fast jeder: YouTube, eBay oder Amazon.
Eine digitale Plattform bildet also die Basis für den Austausch von Leistungen zwischen mehreren Akteurs gruppen. Die Betreiber der Plattform stellen die digitale Infrastruktur für diesen Austausch bereit, ohne eigene Leistungen anzubieten. In der Regel dient die Plattform dazu, Austauschprozesse zu strukturieren, koordinieren und automatisieren. Eine erfolgreiche Plattform perfektioniert diese Infrastruktur und begünstigt auf diese Weise positive indirekte Netzwerkeffekte.
Louise Meier ist Accountmanagerin und Head of Digital im FACHVERLAG THÜRINGEN | Foto: Sandra Böhm
Indirekte Netzwerkeffekte als Erfolgsfaktor von Plattformen
Eine Plattform ist dann erfolgreich, wenn sie von möglichst vielen Akteuren der jeweiligen Marktseite genutzt wird. Auf einer Handelsplattform beispielsweise ist es für die Händler umso besser, je mehr Kunden die Plattform nutzen und ihre Produkte auf diesem Weg kaufen könnten. Andersherum haben die Kunden den Vorteil einer größeren Auswahl, wenn viele Händler die Plattform nutzen. Kurz gesagt: Je mehr Akteure die Plattform nutzen, desto mehr weitere Akteure werden durch die Plattform angezogen, und desto größer ist der Nutzen für jeden einzelnen Akteur. Je größer das Angebot und die Nach frage auf beiden Marktseiten, also diese indirekten Netzwerkeffekte, sind, desto attraktiver ist auch die Plattform.
Verdrängungsprozesse bestimmen den Markt
Je höher die indirekten Netzwerkeffekte einer digitalen Plattform sind, desto stärker entwickelt sich der Marktanteil – zu Ungunsten anderer Wettbewerbsteilnehmer mit der gleichen Idee. Verdrängungsprozesse wirken bei zweiseitigen Märkten deutlich stärker als bei klassischen einseitigen Märkten. Dies führt sowohl zu höheren Markteintrittsbarrieren als auch zu stärkeren monopolistischen Tendenzen. Nutzen wir dazu das Beispiel der Suchmaschine: Nutzen Sie noch Bing? Nein, wahrscheinlich googeln Sie eher – die Plattform ist so dominant, dass sie es bereits als eigenes Verb in den Duden geschafft hat. Natürlich gibt es andere Suchmaschinen – Google hat heute jedoch in einigen Ländern einen Marktanteil von bis zu 90 Prozent.
Und so funktionierts: Die Nutzer fragen bei Google die Dienstleistung „Suche“ nach. Anbieter zielen darauf ab, dass ihre Angebote (Inhalte, Werbung, eigene Website) durch die Suchmaschine gefunden werden. Suchende profitieren dann, wenn die Suchmaschine viele Inhalte findet, die möglichst genaue Ergebnisse zu den eigenen Suchpräferenzen wiedergeben. Anbieter von Inhalten und Werbung profitieren von einer hohen Anzahl an Googelnden, die wiederum Nutzer ihrer Inhalte oder Betrachter ihrer Werbung sind. Besonders attraktiv ist der Umstand, dass die Nachfragenden die Plattform kostenfrei nutzen können, während die andere Marktseite hohe Transaktionskosten für die Sichtbarkeit der eigenen Inhalte zahlt (beispielsweise ein hohes Ranking über GoogleAds oder SEO).
Plattformen können auch scheitern
Kennen Sie noch StudiVZ? Dieses einst von deutschen Unternehmern gegründete soziale Netzwerk gibt es nicht mehr; es wurde durch Face book obsolet. Warum sollten Nutzer in zwei sozialen Netzwerken aktiv sein, wenn beide Plattformen für den gleichen Zweck bestimmt sind: den schriftlichen Aus tausch von Informationen mit Freunden und Bekannten? Nutzer werden sich mittelfristig immer für die Plattform entscheiden, die für sie die höheren indirekten Netzwerkeffekte bereithält (Wo sind mehr meiner Freunde aktiv?). Das Gleiche gilt für Werbekunden: Die attraktivere Plattform mit höheren indirekten Netzwerkeffekten gewinnt und baut langfristig ihre marktbeherrschende Stellung aus. StudiVZ ist mittlerweile Geschichte.
Plattformen im B2B-Bereich
Digitale Plattformen sind schon lange kein B2C-Trend mehr: wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus 2019 zeigt, ist die Durchdringung auch im B2B angekommen. Knapp 70 Prozent der KMU in industrienahen Branchen nutzen bereits digitale Plattformen. Davon setzen 47 Prozent Plattformen für den Einkauf ein und 49 Prozent für den Vertrieb an Unternehmenskunden. Gängige Plattformen sind beispielsweise Mercateo, Wer-liefert-was? oder Amazon Business. Diese Plattformen bieten die Infrastruktur für digitale Handelsbeziehungen und professionalisieren das Einkaufs- und Vertriebsmanagement des Mittelstandes.
Warum der eigene Webshop keine digitale Plattform ist? Ein Webshop listet die Waren des eigenen Unternehmens und bietet diese Kunden online zum Kauf an. Es herrscht ein klassisches Angebots- und Nachfragemodell: Ein Anbieter trifft mit seinem Angebot auf eine Vielzahl von möglichen Nachfragern. Hier bestehen keine indirekten Netzwerkeffekte, sondern direkte Netzwerkeffekte, denn die Zahl der Nachfrager richtet sich beim eigenen Webshop nicht nach der Anzahl der Anbieter (einseitiger Markt mit einem Anbieter, nämlich dem Unternehmen, das den Shop betreibt).
Im Gegensatz zum eigenen Webshop treten Unternehmen auf den oben genannten Online-Plattformen gemeinsam mit anderen Wettbewerbern gegenüber einer Vielzahl von Kunden auf. Das hat Vorteile: Anbieter profitieren durch den schnellen digitalen Marktzugang und treffen auf eine Vielzahl potenzieller Käufergruppen. Und dies ohne Investitionen in die Webshop-Entwicklung und die digitale Shop-Infrastruktur. Einkäufer treffen im Gegenzug auf ein großes Sortiment mit hoher Preistransparenz und profitieren von sicheren Platt formen mit hoher Performance.
Ersetzen B2B-Plattformen künftig den klassischen Webshop?
Plattform-Experten zufolge haben eigene Webshops es oft schwer, von Google gefunden zu werden. Zu hoch sind die SEO-Rankings der gängigen Plattformen. Doch B2B-Plattformen haben auch Nachteile: durch die Abführung von Transaktionsgebühren verringern sich Margen. Außerdem sind individuelle Unternehmens merk male wie die Qualität des Kundenservice, eigens entwickelte Produkt-Konfiguratoren oder das Angebot von Einzel- und Individualfertigungen schwer auf fremden Plattformen abbildbar. B2B-Plattformen werden aufgrund der genannten Vorteile aber durchaus langfristig die digitale Ökonomie mitbestimmen.
„Bestehende Plattformen können eigene Wettbewerbsvorteile ausbauen und Effizienzgewinne schaffen.“
Funktionieren regionale Plattformen?
Wir wissen, dass Plattformen von der Anzahl ihrer Akteure auf beiden Marktseiten abhängen. Und wir haben gelernt, dass Plattformen Monopolstellungen begünstigen. Ergeben regionale Plattformen also Sinn? Jein! Eine bestehende regionale Handels-Plattform für Einkauf und Vertrieb zu nutzen, kann eine sinnvolle Ergänzung zum bisherigen Geschäftsmodell darstellen. Die generellen Vorteile wurden bereits genannt. Außerdem bieten sie beispielsweise Zulieferern die Möglichkeit, bestehende Abhängigkeiten von Kunden aufzubrechen und neue regionale Kundensegmente zu erschließen. Klassische Wertschöpfungsketten werden auf diese Weise zu regionalen Wertschöpfungsnetzwerken, in denen Unternehmen sowohl als Anbieter, als auch als Nachfrager agieren können und beispielsweise kurzfristige Angebots- oder Nachfrageschwankungen sowie Kapazitätsauslastungen regional ausgleichen oder abfedern können. Mittelfristig warten hier Effizienzgewinne und Umsatzwachstum. Doch auch hier gilt: Nur, wenn die Plattform genügend Akteure auf beiden Seiten miteinander vernetzen kann, haben regionale Handelsplattformen eine Chance. Daher: Wenn regionale Plattformen die Wertschöpfung Ihres Unternehmens positiv beeinflussen können und zu Effizienzgewinnen führen: Nutzen Sie sie!
Verzichten Sie jedoch lieber auf die Nutzung regionaler Marketing-Plattformen. Erinnern Sie sich an das Beispiel StudiVZ?Etablierte B2B-Social-Platt formen wie LinkedIn haben die indirekten Netzwerkeffekte so perfektioniert, dass die Nutzung regionaler sozialer Netzwerke im Business-Kontext keinen Sinn ergibt. Denn Marketingmaßnahmen und Informationsaustausch funktionieren nur da, wo eine „kritische Masse“ an Akteuren bereits vorhanden ist. Von der Nutzung oder sogar Schaffung einer neuen regionalen Plattform für reine Kommunikations- und Marketingzwecke ist daher abzuraten.
Kommen wir abschließend zu unserer Anfangsüberlegung zurück: Sie haben das Gefühl, mit Ihrer Geschäftsidee mittels Schaffung einer neuen Plattform einen originären Markt zu erschließen und eine Nische zu besetzen? Dann kann Ihr Vorhaben nur dann gelingen, wenn die Wirtschaftlichkeit der Plattform unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten betrachtet und evaluiert wird. Denn Wirtschaftlichkeit geht bei Plattformen immer auch mit Originalität einher. Es besteht bereits eine Plattform, die ähnliches kann? Diese Plattform wird womöglich bereits stärkere indirekte Netzwerkeffekte besitzen. Dann sind Ihre Erfolgschancen eher gering. Stellen Sie sich also immer auch die Frage: Ist in meinem Markt Platz für eine weitere Plattform? Bei der Schaffung einer neuen regionalen Plattform gilt daher noch eindringlicher als bei anderen digitalen Geschäftsmodellen: Prüfen Sie den Einzelfall und beherrschen Sie die Gesetze der Plattformökonomie! Die geltenden Prinzipien kennen Sie nun.
Plattformen rege nutzen
Digitale Plattformen können dann eine Chance für den Mittelstand darstellen, wenn bestehende Plattformen rege genutzt werden, um eigene Wettbewerbsvorteile auszubauen und Effizienzgewinne zu schaffen. (lm)